Anlass und Hintergrund:
Im 19. Jahrhundert breitete sich eine Bewegung aus, die Grundgedanken der Französischen Revolution soweit vorantreiben wollte, dass am Ende sowohl die Freiheit des Einzelnen als auch die Gleichheit aller möglichst absolut sind.
1840 hat ein Proudhon hierzu eine wichtige Schrift veröffentlicht.
Bis heute gibt es Menschen, die sich wünschen, dass sie mit anderen friedlich zusammenleben können - so, wie sie es wollen, und ohne dass sich der Staat mit Gesetzen, Polizei und Gerichten einmischt.
Wir konzentrieren uns hier auf das Wesen des Anarchismus und die Frage seiner "Machbarkeit" - kann so etwas funktionieren?
1. Definition:
Anarchismus bedeutet den Versuch, ohne Herrschaft auszukommen, wie sie ein Staat mit seinen Gesetzen, der Polizei und den Gerichten bereitstellt.
2. Das Problem:
Damit taucht die Frage auf, ob man ohne Gesetze bzw. Regeln auskommen kann - hier dürften allein schon die Alltagserfahrungen zeigen, dass das nur schwer geht bzw. dazu führt, dass der Stärkere sich durchsetzt.
3. Die Frage nach dem Menschenbild:
Die Alternative dazu wäre, dass alle Menschen von sich aus nett und freundlich sind, sich auf Kompromissgespräche einlassen u.a. Das ist eine Frage des Menschenbildes. Die Geschichte zeigt, dass so ziemlich in jedem Menschen Gefühle und Verhaltensweisen stecken, die das Zusammenleben erschweren oder sogar unmöglich machen.
4. Gibt es einen "guten" Urzustand?
Nun könnte jemand sagen, tja, es ist die Gesellschaft, die Menschen erst schlecht macht. Der Staatsphilosoph Rousseau sprach vom "edlen Wilden". Tatsächlich spricht einiges dafür, dass es so etwas wie "unverdorbene" oder weniger verdorbene gesellschaftliche Situationen gibt. Aber das Verhalten dort wird zum Teil durch quasireligiöse Tabuisierungen erzwungen - und ob eine Herrschaft von Priestern besser ist als die eines weltlichen Staates, ist sehr fraglich.
5. Ja und nein - oder: "Die Länge trägt die Last!"
Nun hat es in der Geschichte immer wieder Beispiele gegeben, wo Menschen ohne Fremdherrschaft zusammengelebt haben. Das beginnt ja schon, wenn zwei Radwanderer sich kennenlernen und beschließen, gemeinsam weiterzufahren. Da muss dann vieles einvernehmlich geregelt werden. Die Frage ist dann immer, was passiert, wenn es passiert, nämlich das Zerbrechen dieser "paradiesischen" Ausgangssituation, wenn man sich auf die Nerven geht oder störende Verhaltensweisen sichtbar werden. Man denke nur an das Thema Scheidung - auch dort beginnt man ja - verliebt wie man ist - paradiesisch - und dann kommen die Störfaktoren. Wenn die noch durch die uralten Kampfregionen unseres Gehirns verstärkt werden, wird es gefährlich.
6. Gefährlich ist die Masse
Jetzt noch zwei Anregungen: Der Psychologe Le Bon hat die sog. Massenseele beschrieben, d.h. das Phänomen, dass Menschen in besonderen Situationen anfällig werden für Ausbrüche. Man denke an die Massen-Emotionen in Fußballstadien. Ist die Massensituation aufgehoben, fragt man sich, warum man das gemacht hat.
7. Gefährlich ist aber auch der Egoismus
Aber Massen sind auch ein Problem - ganz ohne Gewalt, wie man am Autoverkehr sehen kann. Nehmen wir gleich ein Extrembeispiel: Was machen Anarchisten, wenn einige von ihnen Lust auf nächtliche Autorennen bekommen und sich an Absprachen nicht halten.
8. Das Roman-Experiment von Jules Verne
Nun zu einer Ergänzung: Es gibt von dem bekannten Schriftsteller Jules Verne aus dem 19. Jhdt .nicht nur Zukunftsbeschreibungen wie Mondlandungen oder eine Art Atom-U-Boot, sondern auch einen Roman, in dem ein anarchistisches Experiment am südlichen Ende Amerikas durchgespielt wird: Infos dazu findet man leicht auf der Seite:
http://www.j-verne.de/verne67.html
9. Ein bisschen Hoffnung bleibt, aber vielleicht mit Vorsicht
Also hoffen wir mal, dass die Menschheit Regierungen behält, die Einzelmenschen oder auch einzelnen Gruppen das Recht einräumt, weitgehend selbstbestimmt zu leben. Wenn es denen nicht um das Prinzip geht, sondern um die Realisierung, dann könnte da viel möglich sein. Geht es schief, kommt es also zu Gewalt, kann man in einem sicheren Rahmen geordnet aussteigen oder eine rettende Autorität von außen holen.
10. Manchmal braucht man für sich selbst sogar ein bisschen "Herrschaft"
Übrigens: Noch ein nicht ganz ernstgemeintes Bonmot am Ende: Wie soll Anarchismus funktionieren, wenn Menschen es nicht mal mit sich alleine aushalten, ohne auf dumme Gedanken zu kommen oder im "taedium vitae" zu versinken - so nannte man früher die Langeweile, die zu Unlust an allem führt. Dann hilft es manchen nur, wenn sie einen starken Anstoß von außen bekommen ;-)
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