Ich-Krise um 1900 als Voraussetzung des Expressionismus (Mat636)

 

Die Ich-Krise um 1900 und ihre Querbezüge zur Literatur, bsd. Expressionismus

Um 1900 bröckelt die Vorstellung von der Herrschaft des Verstandes und von einem in sich stimmigen und soliden Ich immer mehr. Das hat auch Auswirkungen auf die Literatur, bsd. den Expressionismus. Wir stellen hier die wesentlichen Aspekte in einem Schaubild zusammen und erklären dann die Details.

Schaubild:

Hintergründe – historische Voraussetzungen
Zu den Voraussetzungen gehören zum einen die ökonomischen und sozialen Veränderungen im Zusammenhang mit der Industrialisierung des 19. Jhdts. Man denke an die Landflucht und die neu aufkommenden Industriewelten sowie die Folgen für das familiäre Zusammenleben. Dazu kamen Tendenzen der kulturellen Entwurzelung. Am Ende stand ein Individuum, das viel mehr als früher auf sich allein gestellt war und sich seinen Lebenssinn zusammensuchen musste.

  • Zu all dem kam der Fortschritt in der Wissenschaft und besonders in der Philosophie. Hier gibt es vor allem um Säkularisierung, d.h. einen Rückbau des Einflusses von Religion und Kirchen. Darüber hinaus wurde fast alles an kulturellen Mythen in Frage gestellt, was sich über lange Zeiträume herausgebildet hatte. Unter „Mythen“ verstehen wir hier Geschichten und Vorstellungen, die man bereits aus der Kindheit mitnimmt und in denen die Welt erklärt und das Verhalten der Menschen normiert wird.

Gegenüberstellung von Realismus und neue Weltanschauung um 1900

Realismus

  • Vorstellung von einer objektiven Wirklichkeit
  • Ablehnung von allem, was ihr nicht entspricht (Täuschung, Träume)
  • Feste Normen und Werte
  • Tabuisierung von Sexualität
  • Das Ich ist durch das Bewusstsein bestimmt
  • Unbewusstes wird ignoriert bzw. verdrängt
  • Subjekt erscheint stabil.

Neue Weltanschauung ab 1900

  • Es gibt nur subjektive Wirklichkeiten.
  • Träume und Fiktives sind Bestandteil davon.
  • Infragestellung von Normen und Werten
  • Enttabuisierung der Sexualität
  • Leben selbst wird zur Religion.
  • Das Unbewusste wird nicht nur dem Bewussten entgegengestellt, es erscheint auch als die mächtigere Instanz.
  • Subjekt ist ein Bündel von heterogenen und wandelbaren Empfindungen und Positionen

Ergänzungen:

Vorstufe Kant

  • Schon der berühmte Philosoph Immanuel Kant hatte darauf hingewiesen, dass der Mensch das „Ding an sich“, also die echte Wirklichkeit gar nicht erkennen könne, weil sein Verstand ihm ganz bestimmte Grenzen setzt. Raum und Zeit sind nicht unbedingt reale Größen, sondern Kategorien unseres Verstandes, um die Wirklichkeit für uns zu ordnen.
  • In den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts gehen die sogenannten Neukantianer noch einen Schritt weiter und siedeln die Grenzen des menschlichen Geistes im Bereich der biologischen Entwicklung an. Damit Befinden sie sich in Übereinstimmung mit den Erkenntnissen Charles Darwins. Unser Gehirn kann soviel und so etwas erkennen, wie es seinem (und des Menschen) Überleben als Gattung dient.

Motor Friedrich Nietzsche
1873 verfasst der Philosoph Nietzsche eine Schrift („Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne), in der ebenfalls den menschlichen Verstand primär als Mittel zum Zweck des Überlebens bezeichnet und nicht in erster Linie als Erkenntnisorgan.

  • Vor diesem Hintergrund wird auch moralische alles unter dem Gesichtspunkt betrachtet, ob es dem Leben ganz allgemein dient. Egoismus kann in diesem Zusammenhang durchaus lebensförderlich sein – und ganz problematisch wird es beim Umgang mit schwachen oder kranken Menschen. Da ist man nicht mehr weit vom Sozialdarwinismus entfernt, der keine Frage der Biologie mehr ist, sondern der Macht.

Die Elementenpsychologie
Gefährlich wurde es dann für das Ich selbst, als Wilhelm Wundt die menschliche Seele in elementare Einheiten zerlegte (Sinnenreize, einfache Gefühle) und erst aus ihrem Zusammenspiel komplexere Seelenzustände entstehen ließ.

  • Aufgenommen und weiter entwickelt wurde das von Ernst Mach, der sogar so weit ging zu sagen, dass es für uns überhaupt keine äußere Welt gibt, sondern nur, was wir eben an Empfindungen verspüren. Psychologie und Physik bauen für ihn auf den gleichen Bausteinen auf.
  • Dementsprechend gibt es auch keine Sinnestäuschungen, sondern das, was wir in einer bestimmten Situation sehen, ist für uns dann real – etwa ein Stab, der beim Eintauchen ins Wasser gebrochen aussieht.
  • Alles präsentiert sich ständig auf jeweils besondere Weise – und vor diesem Hintergrund gibt es kein stabiles Ich, sondern eins, das jeweils aus vielen Elementen zusammengesetzt ist.

Auswirkungen auf die Literatur
Nun war es nicht so, dass die Schriftsteller bei diesen Philosophen und Psychologen in die Schule gegangen sind und dann entsprechend geschrieben haben. Aber alle drei Gruppen schöpften gewissermaßen aus den gleichen Quellen – und Sigmund Freud sagte später über seinen Schriftsteller-Freund Schnitzler, der habe auf seine Weise das gleiche literarisch herausgearbeitet, was er bei seinen Therapieversuchen auf der Couch herausbekam.

  • Interessant ist zum Beispiel Bahrs „Das unrettbare Ich“, eine Erzählung, in der drei große Erschütterungen der Sicherheit beim Umgang des Ichs mit der Welt herausgestellt werden: Einmal ist es Kant, auf den wir schon hingewiesen haben. Dann Forschungen, die zeigen, dass ein Ich sich im Laufe seines Lebens völlig verändern kann. Den letzten Knacks gab es dann von der oben beschriebenen „Elementen-Psychologie“.
  • Interessant ist das Ende des Essays. Dort wird nämlich gezeigt, dass diese ganzen philosophischen Überlegungen nicht wirklich weiterhelfen, dass es besser ist, in seinem „natürlichen“ Denken zu verbleiben – denn das ist schließlich das Ergebnis der Versuche der Evolution, die Gattung Mensch am Leben zu erhalten:
  • „Das Ich ist unrettbar. Die Vernunft hat die alten Götter umgestürzt und unsere Erde entthront. Nun droht sie, auch uns zu vernichten. Da werden wir erkennen, daß das Element unseres Lebens nicht die Wahrheit ist, sondern die Illusion. Für mich gilt, nicht was wahr ist, sondern was ich brauche, und so geht die Sonne dennoch auf, die Erde ist wirklich und Ich bin Ich.“
  • Vor diesem Hintergrund ist es durchaus verständlich, dass Bahr schließlich zum Katholizismus konvertierte und dort auch seinen Frieden fand.

Sigmund Freud und das Unbewusste

  • Eine besondere Bedeutung für den Niedergang der Vorstellung von einem Ich, das alles unter Kontrolle hat, hat natürlich Sigmund Freud, der in seiner Psychoanalyse auf die Bedeutung des Unbewussten hinweist. Man schleppt es unerkannt mit sich herum – und hin und wieder äußert es sich auf verfremdete, symbolische Art in Träumen. Hebt man dieses Unbewusste nicht zumindest ansatzweise ans Tageslicht, kann es nicht zu einer „Katharsis“, einer Reinigung dieser tiefsitzenden Gefühle, kommen. Interessant, wie sich hier Gemeinsamkeiten zwischen der modernen Psychologie und der alten Theaterlehre des Aristoteles ergeben.
  • Vor allem die kindliche Sexualität und das Triebleben überhaupt, das – wie wir oben schon erwähnt haben – in der Zeit des Realismus verdrängt wurde, spielt im Werk Freuds eine große Rolle.
  • Er geht sogar so weit, dem Prozess der „Kulturalisierung“, d.h. der Einführung junger Menschen in die bestehende Kultur mit ihren speziellen Vorstellungen und Regeln – und auch ihren Tabus -, einen gewissen Unterdrückungscharakter zuzusprechen.
  • Auf jeden Fall hat Freud maßgeblich zur „Depotenzierung“, d.h. zur Entmachtung des Ichs beigetragen.

Auswirkungen auf die Literatur
Auf das Verhältnis von Psychologie und Literatur in Richtung Parallelität und Austausch wurde oben schon hingewiesen.

  • Ein besonders interessanter Fall ist der Dichter Rilke, der sich weigerte, sich auf die Couch des Analytikers zu legen, weil er die Gefahr des Verlustes der poetischen Kreativität sah. Kunst und Wahnsinn liegen also eng nebeneinander. Entscheidend ist das Ausmaß des „Verrückt-Seins“, was ja nichts anderes bedeutet, als nicht auf den Wegen des Gewöhnlichen zu wandern.
  • Am meisten spürbar sind die Veränderungen vor allem im Bereich der Epik, wo der auktoriale Erzähler zwar immer wieder noch vorkommt, aber es gibt doch zunehmend eine Tendenz zum personalen Erzählen. Das heißt: Maßgeblich ist nicht eine zentrale Instanz, die das Erzählgeschehen steuert, sondern ein oder auch mehrere Ichs in all ihrer Elementenhaftigkeit werden präsentiert. Dementsprechend groß ist die Bedeutung des Inneren Monologs und besonders des Bewusstseinsstroms, weil sich dort all das, was eine Figur bewegt, am besten ausdrücken lässt – angesteuert und ungefiltert.

Literaturhinweis:

Abschließend sei noch hingewiesen auf das Buch:

Philip Ajouri, Literatur um 1900. Naturalismus – Fin de Siècle – Expressionismus, Akademie Verlag Berlin, 2009, dem wir hier manche Anregung verdanken und das wir nur empfehlen können.

Weitere Infos, Tipps und Materialien

 

 

 

 

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