Wir als Zeitgenossen – scheinbar in der Gegenwart, stark in der Vergangenheit und ein bisschen in der Zukunft (Mat8214)

Worum es hier geht:

Wir stellen hier mal einige Überlegungen zusammen, die jeden betreffen, der sich mit Geschichte beschäftigt – bewusst oder auch unbewusst.

Wir als Zeitgenossen – Anmerkungen zum Geschichtsbewusstsein

Wenn man sich mit Geschichte beschäftigt, ist es wichtig, sich einiges klarzumachen, was unser Zeitgefühl und unseren Umgang mit den drei Zeitbereichen der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft betrifft.

Die Fragwürdigkeit der „Gegenwart“

Die meisten Menschen glauben, dass sie in der Gegenwart leben. Das ist aber eine Täuschung unseres Gehirns. Damit wir überhaupt leben können, konstruiert es so etwas wie Gegenwart. Die besteht aber tatsächlich nur aus der minimalen Milli-Sekunde, die wir gerade erleben – und auch die gibt es eigentlich nicht, wie die moderne Gehirnforschung gezeigt hat. In unserem Kopf ist längst ein Plan entstanden, die Kenntnis davon erreicht unser Gehirn erst kurze Zeit später.

Die Vielfältigkeit der Gegenwart und die Vorwegnahme der Zukunft

Aber lassen wir uns das süße Gefühl, dass es zumindest diese 1 Sekunde Gegenwart, die wir zu erleben glauben, wirklich gibt. Der größere Teil unseres Gegenwartsgefühls  ist bestimmt durch die Erinnerung an die Sekunden, Minuten, Stunden, vielleicht Tage, die eigentlich schon Geschichte sind, weil sie unabänderlich hinter uns liegen. Man muss an dieser Stelle noch weiter gehen. Alles, woran wir uns direkt oder indirekt erinnern (dazu gehört auch alles, was wir gehört oder gelesen haben) bestimmt unsere Gefühle, Gedanken und Entscheidungen in der Gegenwart, wird zu Ängsten oder auch Hoffnung. Damit sind wir bei dem Teil des Zeitgefühls, das in die Zukunft hineinragt. Alles das, was mehr oder weniger sicher vor uns zu liegen scheint, bestimmt neben der langen Vergangenheit und der kurzen Gegenwart unser Bewusstsein.

Das kollektive Geschichtsbewusstsein der Medien und der Geschichtswissenschaft

Gehen wir nun über vom individuellen Geschichtsbewusstsein zum kollektiven, das durch die Arbeit von Journalisten und natürlich besonders von Historikern maßgeblich mitbestimmt wird. Spannend sind dabei die Prozesse der Veränderung des Wissens, aber besonders  auch der Einschätzungen, die sich durch die Zunahme der Informationen und die Vergrößerung des Abstands ergeben.

Der Irrglaube zunehmender Erkenntnis bei zunehmendem zeitlichem Abstand

Ein großer Irrtum ist, dass die geschichtlichen Kenntnisse immer besser werden, je mehr Abstand man zum Geschehen hat.

Dass das nicht so ist, kann man an einem einfachen Beispiel klarmachen. Natürlich wusste ein Bewohner des römischen Reiches sehr viel mehr über die konkreten Lebensumstände seiner Zeit  als ein Historiker des  21. Jahrhunderts. Nehmen wir ein zweites, sehr viel heikleres Beispiel: Historiker der Gegenwart neigen vor dem Hintergrund unserer heutigen Bereitschaft, alles irgendwie zu verstehen und immer vom Guten auszugehen, sehr dazu, eine Art Äquidistanz festzustellen zwischen den Machtinteressen und dem Verhalten der USA einerseits und der UdSSR andererseits, was die Zeit des Kalten Krieges angeht. Seltsamerweise flohen aber fast alle Menschen nach 1945 in Richtung Westen. Offensichtlich gefiel ihnen die Welt dort sehr viel besser als die des Eisernen Vorhangs.

Auf gut deutsch: Die Wirklichkeit der Menschen ist mehr, als die Quellen verraten.

Die irrtumsfördernden Faktoren der jeweils aktuellen Geschichtsbetrachtung

Dass viele Historiker sich sehr stark von ihrer eigenen Gegenwart beeinflussen lassen, ist ganz natürlich und hängt auch damit zusammen, dass sie schließlich erfolgreich sein wollen und das geht am besten auf den Wogen des Mainstreams. Dazu kommt das natürliche Bedürfnis einer jeden Generation, sich von früheren abzusetzen.

Die Notwendigkeit des eigenen Geschichtsbildes

Letztlich ist jeder Mensch wie in der Politik so auch in der Geschichte gezwungen, sich ein eigenes Bild zu machen. Das gilt natürlich am meisten für die Themen, die auch in der tagespolitischen Diskussion umstritten sind.

Leider erleben wir in der heutigen Zeit in den beiden Bereichen eine extrem verengte Meinungsbildung. Wer hätte es nach den Erfahrungen der  Mc-Carthy Zeit für möglich gehalten, dass in  aufgeklärten Gesellschaften selbsternannte Wächter der political correctness ihre Mitmenschen überwachen und gegebenenfalls nach Lust und Laune auch denunzieren. Besonders ärgerlich und für die Erkenntnisziele der Wissenschaft verhängnisvoll ist es, wenn Professoren inzwischen damit rechnen müssen, von Studenten unter ihren Zuhörern daraufhin überprüft zu werden, ob ihre Äußerungen dem engen Korrektheitsbewusstsein des Zeitgeistes entsprechen.

Wenn die einst in der Wissenschaft führende westliche Welt so weitermacht, wird sie einen ihrer entscheidenden Standortvorteile verlieren, nämlich die Kraft des freien Wortes als Voraussetzung für eine offene Auseinandersetzung im Ringen um eine aktuelle Wahrheit. Die darf nie schon vorher festgelegt sein – sonst sind Vor-Urteile und ideologische Fixierungen – die Hauptfeinde eines jeden Fortschritts – nicht überwindbar.

Was getan werden kann:

Immer wenn man sich mit geschichtlichen Phänomen beschäftigt, sollte man sich möglichst viele der Oberflächenphänomene unserer Gegenwart anschauen. Daraus ergibt sich dann im Laufe der Zeit ein immer stärkeres Bewusstsein für länger laufenden Prozesse.

Vieles wird dabei gewissermaßen untergehen – anderes wird sich als wichtig und zukunftsbestimmend herauskristallisieren.

Am Ende wird sich etwas ergeben, was man aktuelles Geschichtsbewusstsein nennen könnte – aber auch das ist im Fluss, denn die Oberfläche des Zeitmeeres ist weiter in Bewegung.

Auf jeden Fall ist es spannend, wenn man seine eigene, doch sehr beschränkte Gegenwart im Rahmen des Möglichen in die Vergangenheit verlängert. Zugleich ergeben sich damit mehr Möglichkeiten, zumindest ein bisschen in die Zukunft zu blicken – und wer die im Blick hat, hat deutlich größere Chancen im Leben.

Weitere Infos, Tipps und Materialien